Video #4: Michael Schliekau (Dauer 5:30 Minuten, 2108 mal angesehen)
Beschreibung:
Das Trauma nach dem Schuss - Wenn Polizisten töten
Als Michael Schliekau am 23. September 2003 seine Dienstwaffe zog und abdrückte,
rettete er das eigene Leben  und verlor es zugleich.
Der Polizist hatte sein halbes Magazin auf einen Amokläufer abgefeuert. Fünf
Schüsse trafen den rasenden Mann, konnten ihn aber nicht stoppen.
In dem 6400-Seelen-Ort Mellendorf bei Hannover führte Schliekau dann einen
einsamen Kampf auf Leben und Tod. Ein Trauma folgte.
Erst eine Therapie half dem damals 37 Jahre alten Familienvater zurück ins
Leben. Heute ist er wieder im Dienst. Das gelingt aber längst nicht allen
Polizisten, die ähnliches erleben. Kritiker sagen, schon in der Ausbildung laufe
einiges schief.
Als kleiner Junge habe er gespannt den Geschichten seines Onkels gelauscht,
der Polizist in Schleswig-Holstein war. Nach seiner Ausbildung und einer ersten
Station in Uelzen folgte 1994 die Versetzung ins beschauliche Mellendorf
nördlich von Hannover. Damals war er gerade zum zweiten Mal Vater geworden.
Sein Dienst hätte unspektakulär wie der zehntausender Kollegen verlaufen
können: Unfall, Einbruch, Ruhestörung - was so passiert im Umland einer
Großstadt. Doch dann musste Michael Schliekau töten - einen dreifachen
Familienvater aus dem Nachbarort, der Amok lief.
Schlaflosigkeit nach den Schüssen
Vom "Freund und Helfer" wurde der Polizist zum Beschuldigten in einem
Strafverfahren. Nicht wenige Medien urteilten reflexartig, dass ein halb leeres
Magazin wohl auf Schießwut hindeute. Schliekau wurde fünf Wochen
krankgeschrieben, machte Innendienst. Bald wurde das Verfahren eingestellt, weil
er in Notwehr geschossen hatte. Verhallt waren die tödlichen Schüsse für den
Polizisten damit noch lange nicht. Sein Leben war nicht mehr dasselbe. Er selbst
war nicht mehr derselbe.
"Ich hatte Schlafstörungen", erinnert sich Schliekau. Er träumte, durch
Mellendorf zu irren, ohne auf Menschen zu treffen. Quälende Ungewissheit packte
ihn, ließ ihn nicht mehr los, trieb ihn ohne Pause um. Denn er konnte sich nach
der Extremsituation nicht mehr an alle Details erinnern. "Das war mit das
Schlimmste, diese Lücken", sagt der heute 41-Jährige. Die Kollegen versuchten,
ihn auf andere Gedanken zu bringen. "Die haben toll reagiert."
Doch seine Gedanken kreisten nur noch um die Schüsse. "Ich rutschte immer wieder
in das Ereignis", beschreibt er seine damalige Situation. Sein altes Leben war
weit weg. Er verschlang Literatur zum Thema Schusswaffengebrauch, in der
Hoffnung, sich besser zu verstehen. Er hatte Angst vor der Dunkelheit, die
Alpträume ließen ihn nicht durchschlafen. Die Gedanken an die Schüsse waren
längst Obsession, als Schliekau seine erste Therapie begann. "Wenn man so sehr
um sich selbst kreist, bleibt wenig Zeit für alles andere", sagt der
Mellendorfer, dessen Ehe damals vor dem Aus gestanden habe.
Auch auf Schliekau ging der 100 Kilogramm schwere Hüne los, schlug auf ihn ein
und ließ auch nicht von dem Polizeibeamten ab, als dieser einen Warnschuss
abgab, ihm ins Knie schoss und sich schließlich nicht mehr anders zu helfen
wusste, als dem tobenden Mann in den Bauch zu schießen. Sein Kollege hatte sich
vom Tatort entfernt, um über Funk Hilfe anzufordern. "Alleine einem Amokläufer
gegenüber zu stehen", sagt Schliekau, "ist polizeilich der GAU". Erst nach dem
Eintreffen der Verstärkung konnte der Amokläufer mit vier Kugeln im Bauch
überwältigt werden. Noch im Krankenhaus griff er die Ärzte an, bis er seinen
Verletzungen erlag. Die Obduktion ergab keinen Hinweis auf Drogen.
"Viele gehen daran kaputt"
Michael Schliekau endet seinen ausführlichen Bericht, stockt und hält inne. Er
ist aufgewühlt. Er hat sich mehrmals mit Kollegen getroffen, die wie er töten
mussten. Gemeinsam arbeiteten sie das Erlebte auf. "Das schaffen längst nicht
alle", weiß Schliekau. "Viele gehen daran kaputt." Sein Kollege etwa aus dem
Einsatz damals. Der Vorfall habe diesen aus der Bahn geworfen. Letztlich, sagt
Schliekau, habe er nach vielen persönlichen Rückschlägen Selbstmord begangen.
"Früher oder später holt das Erlebte jeden ein", weiß Dietmar Krüger,
Diplom-Sozialarbeiter in der Regionalen Beratungsstelle (RBS) in Hannover. Die
Anlaufstelle für Polizisten in Krisen betreut die Beamten nach belastenden
Ereignissen. In Niedersachsen ist das System dezentral, das Polizisten nach
extremen Situationen hilft. Jede Polizeidirektion hat eine RBS. Krüger und seine
Kollegen werden um Unterstützung ersucht - von den Betroffenen direkt oder von
deren Vorgesetzten. Sie werden aber auch selbst aktiv und bieten Hilfe an. "Das
Bild des starken Polizisten, den nichts belastet, hat sich zum Glück gewandelt.
Heute wissen die meisten: 'Du tust dir was Gutes, wenn du dir Hilfe holst'",
sagt Krüger.
Probleme angehen
Da das System der Hilfen Ländersache ist, sieht es beispielsweise in
Nordrhein-Westfalen ganz anders aus. Dort ist die Organisation zentral, ein
Kriseninterventionsteam fährt zu den Betroffenen. Die frühere Mentalität
innerhalb der Polizei, solche Angebote und ihre Teilnehmer zu belächeln, habe
sich grundlegend geändert, sagt Erich Traphan aus dem Landesamt für Personal der
Polizei in NRW. Für ihn sind die Probleme der Kollegen ein gutes Zeichen. "Ich
hätte Angst vor Polizisten, die solche Erlebnisse kalt ließen", sagt der
58-Jährige und fügt hinzu: "Die Harten brechen eh' zuerst."
In Extremfällen wie bei Schliekau muss den polizeiinternen Angeboten oft eine
Therapie folgen. Für Wolfgang Lempa, Leiter der Trauma-Ambulanz an der
Medizinischen Hochschule Hannover, ist für den Therapieerfolg entscheidend, dass
schnell begonnen wird. Dann stünden die Chancen gut. "Polizisten sind ja eine
positive Auswahl der Gesellschaft und meist gut belastbar", meint der Mediziner.
Zwei Drittel brauchen Hilfe
Für den pensionierten Landespolizeipfarrer Martin Krolzig aus Münster gibt es
viel Nachholbedarf. Der Schlüssel liege vor allem im Selbstverständnis der
Polizisten. "Die wollen gar nicht erst hören, dass sie alle im Ernstfall wie
Soldaten töten müssen", sagt Krolzig, Autor des Buches "Wenn Polizisten töten".
Er hat nach eigenen Angaben erstmals bundesweit traumatisierte Polizisten
zusammengebracht und gründete die "Selbsthilfegruppe für Polizeibeamte mit einem
Schusswaffenerlebnis". Ein Drittel der Betroffenen würden nach seiner Erfahrung
mit dem Erlebten alleine fertig. Das zweite Drittel brauchte Hilfe von Freunden
und Kollegen. "Und das letzte Drittel schafft es in der Regel nie, da jagt dann
eine Therapie die nächste", sagt Krolzig, der auch intensiv mit Spezialeinheiten
gearbeitet hat.
Dass Polizisten auf Menschen schießen müssten, sei so selten, dass
professionelle Vorbereitungen darauf in der Ausbildung fehlen. Da heiße es oft:
"Keine Zeit, kein Geld, keine Notwendigkeit." Das sei falsch. "Von Flugkapitänen
erwarten wir doch auch, dass sie Extremsituationen trainieren, bis sie sie im
Schlaf beherrschen." Der Polizei zufolge sind deutschlandweit seit 2001 mehr als
30 Menschen von Polizisten erschossen worden.
Mobbing und späte Betreuung
Reinhold Bock aus dem bayrischen Glattbach hat die von Krolzig gegründete
Selbsthilfegruppe inzwischen übernommen. Rund 50 Teilnehmer seiner Seminare hat
er Fragebögen beantworten lassen. Ergebnis: Für die Mehrheit läuft die Betreuung
erst nach Monaten an, ein Drittel ist mit ihr unzufrieden, und rund die Hälfte
wird nach den Erlebnissen von Kollegen "angegriffen, gemobbt, abgestempelt".
Schliekau möchte nach dem Gespräch am Weißdornweg nicht im Auto mit
zurückgenommen werden. "Ich muss ein bisschen durchschnaufen und gehe lieber zu
Fuß." Heute könne er dem Erlebten sogar etwas abgewinnen. "Unsere Familie ist
enger zusammengerückt als je zuvor. Eigentlich hätte mir nichts Besseres
passieren können", scherzt er und will gehen. Wie er reagiere, wenn sein Sohn
Polizist werden wolle? "Ich wäre dagegen."